Zweckgebundene Schönheit

Theater: Hubert Habig wagt sich mit „schön + wahr = gut“ in der Heidelberger HebelHalle spartenübergreifend an die Klassik

Zweckgebundene Schönheit

Von unserem Redaktionsmitglied Ralf-Carl Langhals
„Die größten Güter werden uns nur durch Wahnsinn zuteil, der als göttliche Gabe in unsere Seele gelegt ist.“ Gemäß Platons „Phaidros“ hat der umtriebige Theatermann Hubert Habig ihn aufgebracht, um das Gesamtkunstwerk „wahr + schön = gut“ mit Theater, Tanz, Musik und Kunst in die Tat umzusetzen. Ein weites Feld für ein ehrgeiziges Projekt, bei dem konzise Beschränkung freilich geboten ist. Und so suchte Habig überwiegend in Antike und Klassik nach einschlägigen Stellen und nach dem großen Ganzen. In Texten des anatolischen Humanisten Yunus Emre oder der Mystikerin Hildegard von Bingen wurde er ebenso fündig. Glaube an Gutes Dafür, dass der west-östliche Divan im buchstäblichen Sinne gemütlich wird, sorgen stimmlich Jutta Glaser und Ali Ungan (auch an der Langhalslaute Saz berückend) unter instrumentaler Begleitung von Cris Gavazzoni (Perkussion) und Martin Bärenz (Cello). Vom meditativen Derwischtanz (Erim Güney) bis zum kollektiven Publikums-Kanon nach Johann Pachelbel erfährt man am eigenen Leib, dass der Mensch nur da Glauben an Gutes entwickeln kann, wo er in der Lage ist, einen, nennen wir ihn getrost „göttlichen“ Funken zu erspüren. Eine Urempfindung, die Jahrtausende, Zivilisationen, Glaubens- und Kunstrichtungen übergreift und nichts Geringeres hervorbringt als Kulturleistung. Im schlichten wie spektakulären Theaterraum HebelHalle des Heidelberger Unterwegstheaters ist dieses Unterfangen gut aufgehoben. Das weiß umhängte Bühnenquadrat (Motz Tietze) bietet ideale Auftrittsmöglichkeiten für die Studenten der Mannheimer Theaterakademie, aber auch Projektionsfläche für Videoarbeiten von Patricia Carvalho und Silvia Szabö. Die harmonischen Formen der Künste galten der Klassik als Ideal, das den Menschen eine Art Vorahnung einer idealen Gesellschaft ermöglichte. Freilich darf hier Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ebenso wenig fehlen wie Goethes „Göttergaben“ (originell vorgetragen von Miriam Grimm und Florian Kaiser). Die Schönheit antiker Texte führt Rezitatorin Verena Buss vor Ohren. Meditativen Sog liest sie Ovids Metamorphosen ein, in einer sprachlichen Genauigkeit und narrativen Struktur, die uns alte Göttergeschichten brandaktuell und berührend vor Auge und Seele entstehen lässt. Dass selbst die Schönheit alter Verse missbraucht werden kann, lässt sich in Oliver Groszers Literatur-Jonglage erfahren, der auf der Grundlage von Platons Phaidros-Text „Über das Schöne“ eine charmante wie perfekte Zirkusnummer gibt, um – als Absolvent der Odewaldschule – den doppelten Boden des Urtextes zur antiken Knabenliebe als perfid praktizierte Legitimation pädophiler Pädagogen zu entlarven. Nach der Pause geben die von Schauspielstudenten szenisch gefassten Bildungsnotstandsprotokolle der IHK Oldenburg einen ernüchternden Einblick auf die Aussicht, unsere Gesellschaft durch Kunst und Bildung zu einer besseren zu machen. Nicht von ungefähr steht danach mit Ernst Jandl plötzlich die Frage im Raum, wie man „vom vom zum zum“ kommt. Die Frage, ob wir aktueller Kunst den klassischen Stellenwert noch oder wieder zutrauen, kann letztlich auch dieses im Gewand der Nummernrevue auftretende Gesamtkunstwerk nicht beantworten. Dass ehrgeizige Abende zu komplexen Sachverhalten aber ein sinnlich erfahrbares wie unterhaltsames Theatervergnügen werden können, beweist diese bejubelte Arbeit in Heidelberg allemal.
Mannheimer Morgen 31. Oktober 20ö

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